„Alebrijes? Woher der Name Alebrijes stammt?“ fragt Claudio Morales, während er seinen Achtzylinder-Geländewagen die Landstraße entlang steuert. „Das Wort ist im Delirium entstanden.“ In einer Fiebernacht, erklärt er, seien dem Künstler Pedro Linares im Traum seltsame Tiere erschienen. Und all diese geflügelten Esel, gehörnten Hähne und mit Greifenköpfen umher stolzierenden Löwen riefen ihm ein und dasselbe Wort zu. „A-le-bri-je!“
Alebrijes auf einem Markt in Oaxaca – © Knut HildebrandtLinares lebte in den dreißiger Jahren des letzten Jahrhundert am Rande Mexiko Citys. Um seinen Lebensunterhalt zu verdienen, fertigte aus Pappmaché Piñatas und Karnevalsmasken an. Aus seinem Fiebertraum erwacht, begann er auch die ihm darin erschienenen Fabelwesen aus Pappmaché zu formen. Wie im Traum gesehen, malte er die Figuren grell bunt an.
Nach Oaxaca kamen die Alebrijes gut dreißig Jahren später. Inspiriert durch Linares‘ Arbeiten begannen Kunsthandwerker stilisierte Tiere aus Holz zu schnitzen. Heute leben in den Dörfern um Oaxaca mehr als zweihundert Familien von den Holzschnittarbeiten. In Heimarbeit stellen sie ihre kleinen Kunstwerke her und verkaufen diese auf den Märkten der Stadt.
Fabelwesen im Schuppen – © Knut HildebrandtDer Jeep hält vor einem kleinen Anwesen in San Antonio Arrazola Xoxocotlan. Hier wohnt Morales, hier hat er sein Atelier. Aus einem Schuppen gegenüber dem Hoftor stiert mich ein geflügelter Drache mit Menschenkopf an. Hände und Füsse des Ungetümes zieren lange Klauen. Sein Schwanz ist mit scharfen Stacheln bewehrt. Und auf dem Kopf mit den menschlichen Gesichtszügen und den unnatürlich grossen Ohren thront ein Frosch.
Dieses aus einem Fantasyfilm entsprungen zu scheinende Wesen ist das Produkt der reichen Phantasie eines Claudio Morales. Es entstammt Reisen in innere Welten, denen auch seine sehr eigene philosophische Weltsicht entspringt. Nicht umsonst wird Claudio von seinen zapotekischen Freunden nach einer Figur aus der Mythologie ihres Volkes benannt. Dem „Schwarzen Drachen“ werden nämlich magische Kräfte zugeschrieben.
Teresa bemalt Alebrije – © Knut Hildebrandt„Genug gestaunt!“ reißt mich Claudio aus meinen Gedanken. „Du musst unbedingt Teresita kennen lernen,“ sagt er und schiebt mich durch die Tür einer kleinen Werkstatt. In dem engen Raum steht die Luft. Einzig durch die offene Tür weht ein kaum spürbarer Luftzug hinein. Im Halbdunkel sehe ich zwei Frauen arbeiten. Mit feinen Pinseln bemalen sie Figuren aus Holz. Diese sind für einen Auftrag aus Deutschland – einen Kaktus – an dem er mit seiner Frau Teresa González seit über einem Monat arbeiten, erklärt mir Morales.
Auf einem Tisch im Wohnzimmer steht das Kunstwerk. Wie alle Arbeiten der beiden beeindruckt es durch seine Größe. Mindestens einen Meter im Durchmesser misst das verzweigte Gewächs. Raupen kriechen über seine in verschiedenen Grüntönen schimmernden Blätter. Schmetterlinge, Bienen und Kolibris umschwirren die aus ihm hervor sprießenden Blüten.
Claudio mit Kaktus – © Knut HildebrandtNicht nur durch ihre Größe unterscheiden sich Claudios und Teresas Alebrijes von denen der anderen Holzschnitzer der Region. Im Gegensatz zu diesen zeichnen die beiden auch ihre Arbeiten gemeinsam. Damit wollen sie unterstreichen, dass Teresas Malerei genauso Bestandteil des künstlerischen Schaffensprozesses ist, wie Claudios Schnitzerei. Denn mit ihrer ausgefeilten Maltechnik gelingt es Teresa den Alebrijes eine ihnen eigene Oberflächenstruktur zu geben. Nicht zuletzt diese ausgefallenen Texturen heben ihre Arbeiten deutlich von denen der Kunsthandwerker ab.
Dies wurde vor fünf Jahren auch durch den Bundesstaat Oaxaca anerkannt. Claudio darf sich seitdem, im Gegensatz zu den Kunsthandwerkern, offiziell als Bildhauer bezeichnen. Damit wird nicht nur sein künstlerisches Schaffen gewürdigt, sondern auch dem Umstand Rechnung getragen, dass seine Arbeiten internationale Anerkennung finden. Denn Claudios Alebrijes werden nicht nur von ausländischen Kunstliebhabern gesammelt. Museen aus der ganzen Welt haben bereits seine Werke gekauft.
Marktplausch – © Knut Hildebrandt„Das Leben ist der wahre Traum, dem wir folgen müssen“ sagt Claudio, während wir den Kaktus betrachten.“Und wir sollten es jetzt leben. Gestern ist vergangen und morgen ungewiss.“ Zu viele Menschen jagen nur materiellen Träumen hinterher, philosophiert Morales weiter. „Und sie vergessen dabei zu leben.“ Vor zwei Tagen sei unerwartet ein Freund gestorben. „Was bleibt dem jetzt von seinem Leben?“
Claudio Morales hat sein Leben stets intensiv gelebt. Nicht ohne Stolz erzählt der immer noch attraktive Mitvierziger von den Abenteuern seiner Jugend. Gross gewachsen, mit langem schwarzen Haar und sportlicher Figur war er der Schwarm aller Frauen. Heute lebe er ruhiger, erklärt mir Morales. Gott habe ihm eine Frau und zwei Kinder beschert und die Kunst, welche seinem Leben einen Sinn geben. Er ist ein glücklicher Mann, fügt Claudio hinzu.
Essensstand auf dem Viehmarkt von Zaachila – © Knut HildebrandtZwei Tage später treffe ich Claudio wieder. Gemächlich schlendere ich über den Viehmarkt von Zaachila. Um mich herum wechseln Rinder den Besitzer, werden Pferde kritisch beäugt und laut meckernde Ziegen auf Kleinlastern verstaut. Am Rande des bunten Treibens steht ein halbes Dutzend Essensstände. Marktfrauen rösten Fleisch auf dem Grill und rollen es in frische Tortillas. Es riecht nach Gebratenem und Gesottenem.
Schon von Weitem sehe ich Claudios stattliche Gestalt hinter einem der Stände. Zusammen mit Freunden sitzt er dort an einem langen Tisch. Gemeinsam trinken sie Bier und Mezcal. Mit lauter Stimme singen sie dabei zur Gitarre. Ja, Claudio versteht auch heute noch das Leben in vollen Zügen zu genießen.