Was mir neben dem recht ruppigen Umgang an der Grenze ebenfalls negativ auffiel, ist die Armut hier in den Staaten. In großen Städten wie Seattle und Portland trifft man aller Orten auf Obdachlose und Bettler Und die sehen meistens nicht wie das drogenabhängige Klientel aus der Hastings Street in Vancouver aus. Viele wirken auf mich aber niedergeschlagen und depressiv.
Tyler meinte, die Jobsituation in den Staaten sei derzeit katastrophal. Viele Menschen verdienen so wenig, daß es kaum zum Leben reicht. Deswegen können sie sich auch keine Krankenversicherung leisten. Da hilft auch die von Obama eingeführte Krankenversicherungspflicht und die mit ihr einhergehende Unterstützung der ärmeren Bevölkerungsschichten wenig. Diese bekommt man nämlich erst im Nachhinein und zwar nach Abgabe der Steuerklärung ausgezahlt. Bezahlen muß man die Versicherung aber sofort und zwar von dem Geld, das man eigentlich zum Leben benötigt. Sich um die Krankenversicherung wie bisher zu drücken geht aber auch nicht. Ab Ende des Jahres werden dafür drastische Strafen erhoben. Tyler wird deshalb jetzt für um die 160 Dollar im Monat eine Versicherung abschließen, die gerade mal das Nötigste für den Notfall abdeckt.
Bildserie Bellingham alternativ – © Knut HildebrandtBesonders auffällig wurde diese alltägliche Armut in einem Supermarkt mit dem schönen Namen „Grocery Outlet“. In diesem gibt es alles um bis zu 50% herabgesetzt. Die Sachen stammen aus anderen Märkten, die sie nicht rechtzeitig los geworden sind. Beim Grocery Outlet kauft der ärmere Teil der Bevölkerung ein. Das sind die Leute, für die jeder Dollar zählt. Es war schon beklemmend zu sehen, wie sich das gar nicht so alte Paar vor uns freute, als das Mädel an der Kasse ihnen zuträllerte, daß sie gerade gut 25 Dollar gespart hätten. Sofort überlegten die beiden, wo die gesparten Kohle ansonsten gefehlt hätte.
Fast alle Leute, die ich bisher kennen gelernt habe jobben in einem Restaurant oder haben dort einen Zweitjob. Das trifft nicht nur auf Tyler zu, dem zur Zeit das nötige Kleingeld fehlt, sein Studium zu beenden. Auch seine Schwester, die ihren Bachelor in Psychologie bereits in der Tasche hat, arbeitet noch in einer Bar. Selbst sein Freund Jake muß sein Lehrergehalt mit einem Nebenjob als Bartender aufbessern. Eine feste Anstellung findet er nämlich nicht. Deshalb gibt er Vertretungsstunden auf Zuruf. Das läuft meist so, daß er am Abend oder früh am Morgen seine Mail checkt, um zu sehen, ob ein Job im Angebot ist. Dann heißt es schnell zuschlagen, das Angebot annehmen und die Stunde(n) abreißen.
Bildserie Bellingham alternativ – © Knut HildebrandtBei einem unserer Gespräche über die derzeitige Situation in den Staaten erwähnte Tyler auch, daß gut ein Fünftel aller Kinder in den USA nur zwei Mahlzeiten am Tag hätten. Sein Freund Jake bestätigte das und ergänzte, daß dies dann in der Regel die Schulspeisung sei. Für Kids aus armen Familien ist diese kostenlos und oft das einzige, was sie unter der Woche zu essen bekommen.
Viele Amerikaner erhalten auch Food Stamps, damit sie sich ausreichend ernähren können. Diese Lebenssmittelmarken können in den meisten Supermärkten gegen Nahrungsmittel eingelöst werden. Tyler hatte auch eine Zeit lang welche bezogen. Er bekam Marken im Wert von um die 200 Dollar im Monat. Seit er mit mehrere kleinen Jobs ein regelmäßiges, bescheidenes Einkommen hat, lohnt sich der Aufwand der Beantragung nicht mehr. Er würde jetzt nur noch um die 20 Dollar bekommen. Der Hammer ist: die Republikaner versuchen gerade im Repräsentantenhaus durchzusetzten, daß die Mittel für die Food Stamps drastisch gekürzt werden. Ihrer Meinung nach sind die Bezieher der Marken arbeitsscheu und machten sich nur auf Staatskosten ein gutes Leben.
Bildserie Bellingham Bay – © Knut HildebrandtAuf der anderen Seite scheint es hier in den Staaten aber nicht wenige Leuten zu geben, die nicht wissen wohin mit ihrer Kohle. In dem Restaurant, in dem Jake kellnert, gab es kaum ein Hauptgericht unter dreißig Dollar. Und der Laden war fast jeden Abend gut besucht. Tyler erwähnte auch einen Freund, der für Google als Programmierer arbeitet. Dieser verdient mit gerade mal fünfundzwanzig 250.000 Dollar im Jahr. Die braucht er aber auch, weil er in San Francisco lebt. Die Mietkosten in der Stadt sind gerade dabei zu explodieren. Tyler zeigte mir eine Karte im Netz, aus der hervor ging wie viele Jobs die alteingesessene Bevölkerung haben müßte, um sich ihre Bude bei Neuvermietung noch leisten zu können. Das Krasseste war das acht bis neunfache. Kein Wunder, daß viele aus der Stadt abwandern. So vielen Nebenjobs kann ja kein Mensch nachgehen.