Der Zocalo gleicht einem Menschenmeer. Auf dem festlich illuminierten Platz zwischen Kathedrale und Rathaus drängen sich tausende vor Ständen, auf denen kleine Kunstwerke aus Rettich, getrockneten Maisblättern und Strohblumen ausgestellt sind. „Da hinten, beim Weihnachtsbaum ist das Ende“, ruft eine Frau aus der fast einen Kilometer langen Schlange! Aus überfüllten Restaurants dröhnen Weihnachtslieder. Wer hier keinen Tisch bekommen hat, sucht sich zum Ausruhen von der langen Warterei eine Bank auf dem mit hunderten Weihnachtssternen bepflanzten Platz. Oaxaca feiert die Noche de Rábanos.
Candela aus Rettich – © Knut HildebrandtDie Nacht der Rettiche wird jedes Jahr einen Tag vor Heiligabend in der Hauptstadt des gleichnamigen mexikanischen Bundesstaates begangen. Sie soll an den Beginn der Kultivierung dieses Gemüses in der Region erinnern. Alles begann vor gut 111 Jahren mit einem vorweihnachtlichen Markt, auf dem Figuren aus Rettich ausgestellt wurden. Heute ist die Rettichnacht ein großes Fest, bei dem Künstler aus ganzen Mexiko zum Wettstreit antreten.
Während auf dem Zocalo ihre Arbeiten bestaunt werden, haben sich die Teilnehmer des Wettbewerbs im Festsaal des Rathauses versammelt. „Der erste Preis geht an … “
Serafín legt letzte Hand an – © Knut HildebrandtSerafín Muñoz Cisneros ist nicht unter den Preisträgern. Er wirkt aber keineswegs enttäuscht. „Wichtig ist es, dabei zu sein“, sagt Cisneros, „und die Tradition weiterleben zu lassen.“ Viele Jahre konnte der sportliche Mitsechziger mit den kurzen dunklen Haaren den Wettbewerb für sich entscheiden. „Dreizehn Preise habe ich bekommen, darunter neun erste.“ Besonders stolz ist er auf einen Sonderpreis für die schönste Einzelfigur. Seine Nachbildung einer Grabbeigabe aus Monte Albán, der alten Zapotekenstadt in den Bergen oberhalb Oaxacas, hatte vor einigen Jahren große Aufmerksamkeit erregt.
Aus einem alten Radio tönen Rock’n’Roll-Songs durch die Stube mit dem rotbraunen Betonfußboden. An den Wänden hängen Heiligenbilder. In der Mitte des Raums sitzt in Jogginghose und weißem T-Shirt Serafín Cisneros und putzt Rettiche. „Aus ihnen werde ich eine Candela bauen“, erklärt er. Das ist ein Festumzug mit reich dekorierten Wagen, Blaskapelle und Feuerwerk.
© Knut Hildebrandt„Früher haben wir die Rettiche noch selber angepflanzt“, erzählt Cisneros weiter. Dabei schneidet er sorgfältig sämtliche braunen Stellen aus dem Wurzelgemüse. Heutzutage baut die Stadt das Gemüse an und stellt es den Künstlern zur Verfügung. Auch wenn das enorme Kosten spart, ist Serafín nicht wirklich glücklich darüber – wegen der mangelhaften Qualität des Rettichs.
Neben dem Haus befindet sich ein kleiner Hof. Auf diesem lagert Baumaterial. In der hintersten Ecke steht ein alter, rostiger Grill. Hier sitzt im Schatten einer blauen Plastikplane Roberto auf einem Riesenberg roter Rettiche. „Das wird wohl knapp eine Tonne sein“, schätzt er vorsichtig. Serafins Sohn zerteilt mit einem großen Messer sorgfältig die Wurzeln. Derweil gräbt sich der sechsjährige Erik durch den Rettichberg. Auch Serafíns Enkel möchte helfen.
Enkel Erik – © Knut Hildebrandt
Am Wohnzimmertisch schneidet Schwiegersohn Filipe mit einem feinen, einem Skalpell nicht unähnlichem Messer weiße Gesichtszüge in eine der roten Knollen. „Das wird der Erzengel Gabriel“, sagt er. Der Engel gehört zur Darstellung von „Mariae Verkündigung“, an der er gerade arbeitet. „Seit wir vor zwanzig Jahren geheiratet haben, stellen Maria und ich gemeinsam aus“, erklärt Filipe und lächelt dabei seine Frau an. Neben den beiden flackert eine weisse Kerze auf dem mit frischen Blumen geschmückten Altar.
Die drei Tage zwischen der Ernte des Rettichs und der Ausstellung arbeiten die Cisneros‘ durch. „Letzte Nacht bin ich erst um fünf Uhr morgens ins Bett gekommen.“ Serafin sieht müde aus. Seit elf Uhr ist er nun schon auf dem Zocalo und montiert seinen Festumzug. Immer wieder klettert er auf den Marktstand, um die Heiligenstatue auf dem Umzugswagen zurecht zu rücken oder eine der Figuren umzustellen. Erst am späten Nachmittag, gerade noch rechtzeitig vor dem Rundgang der Jury, ist alles zu seiner Zufriedenheit arrangiert. Jetzt kann Cisneros sich setzen und in aller Ruhe auf die Siegerehrung warten.
© Knut HildebrandtAls die Gäste nach der Preisverleihung auf die Straße treten, ist ein lautes Pfeifen zu hören. Es kommt von der Kathedrale auf der anderen Seite des Zocalos. Dort steht ein „Castillo“, ein alle umliegenden Gebäude überragendes Gerüst. Dieses steht buchstäblich in Flammen. Riesige Feuerspiralen drehen sich wie wild und sprühen Funken über den Platz. Immer wieder steigen Raketen auf und explodieren mit lautem Knall am mondlosen Nachthimmel. Zum Abschluss des Spektakels ergießt sich ein gewaltiger Feuerregen vom Dach der Kathedrale und taucht den Zocalo in märchenhaftes Licht.
Trotz der ausgelassenen Feststimmung in dieser lauen Dezembernacht möchte Serafín Cisneros nach dem Feuerwerk gehen. „Ich muss den Schlaf der vergangenen Nächte nachholen“, sagt er und verabschiedet sich von seinen Söhnen. Diese bleiben noch, um mit ihren Frauen und Freunden weiter zu feiern.