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Noche de Rábanos

Der Zocalo gleicht einem Menschenmeer. Auf dem festlich illuminierten Platz zwischen Kathedrale und Rathaus drängen sich tausende vor Ständen, auf denen kleine Kunstwerke aus Rettich, getrockneten Maisblättern und Strohblumen ausgestellt sind. „Da hinten, beim Weihnachtsbaum ist das Ende“, ruft eine Frau aus der fast einen Kilometer langen Schlange! Aus überfüllten Restaurants dröhnen Weihnachtslieder. Wer hier keinen Tisch bekommen hat, sucht sich zum Ausruhen von der langen Warterei eine Bank auf dem mit hunderten Weihnachtssternen bepflanzten Platz. Oaxaca feiert die Noche de Rábanos.

Candela Candela aus Rettich – © Knut Hildebrandt

Die Nacht der Rettiche wird jedes Jahr einen Tag vor Heiligabend in der Hauptstadt des gleichnamigen mexikanischen Bundesstaates begangen. Sie soll an den Beginn der Kultivierung dieses Gemüses in der Region erinnern. Alles begann vor gut 111 Jahren mit einem vorweihnachtlichen Markt, auf dem Figuren aus Rettich ausgestellt wurden. Heute ist die Rettichnacht ein großes Fest, bei dem Künstler aus ganzen Mexiko zum Wettstreit antreten.

Während auf dem Zocalo ihre Arbeiten bestaunt werden, haben sich die Teilnehmer des Wettbewerbs im Festsaal des Rathauses versammelt. „Der erste Preis geht an … “

Serafín Muñoz Cisneros Serafín legt letzte Hand an – © Knut Hildebrandt

Serafín Muñoz Cisneros ist nicht unter den Preisträgern. Er wirkt aber keineswegs enttäuscht. „Wichtig ist es, dabei zu sein“, sagt Cisneros, „und die Tradition weiterleben zu lassen.“ Viele Jahre konnte der sportliche Mitsechziger mit den kurzen dunklen Haaren den Wettbewerb für sich entscheiden. „Dreizehn Preise habe ich bekommen, darunter neun erste.“ Besonders stolz ist er auf einen Sonderpreis für die schönste Einzelfigur. Seine Nachbildung einer Grabbeigabe aus Monte Albán, der alten Zapotekenstadt in den Bergen oberhalb Oaxacas, hatte vor einigen Jahren große Aufmerksamkeit erregt.

Aus einem alten Radio tönen Rock’n’Roll-Songs durch die Stube mit dem rotbraunen Betonfußboden. An den Wänden hängen Heiligenbilder. In der Mitte des Raums sitzt in Jogginghose und weißem T-Shirt Serafín Cisneros und putzt Rettiche. „Aus ihnen werde ich eine Candela bauen“, erklärt er. Das ist ein Festumzug mit reich dekorierten Wagen, Blaskapelle und Feuerwerk.

Serafín bei Arbeit © Knut Hildebrandt

„Früher haben wir die Rettiche noch selber angepflanzt“, erzählt Cisneros weiter. Dabei schneidet er sorgfältig sämtliche braunen Stellen aus dem Wurzelgemüse. Heutzutage baut die Stadt das Gemüse an und stellt es den Künstlern zur Verfügung. Auch wenn das enorme Kosten spart, ist Serafín nicht wirklich glücklich darüber – wegen der mangelhaften Qualität des Rettichs.

Neben dem Haus befindet sich ein kleiner Hof. Auf diesem lagert Baumaterial. In der hintersten Ecke steht ein alter, rostiger Grill. Hier sitzt im Schatten einer blauen Plastikplane Roberto auf einem Riesenberg roter Rettiche. „Das wird wohl knapp eine Tonne sein“, schätzt er vorsichtig. Serafins Sohn zerteilt mit einem großen Messer sorgfältig die Wurzeln. Derweil gräbt sich der sechsjährige Erik durch den Rettichberg. Auch Serafíns Enkel möchte helfen.

Erik
„Seit mehr als vierzig Jahren beteilige ich mich an der Noche de Rábanos“, berichtet Cisneros. Er hat das Handwerk von seinem verstorbenen Vater gelernt. Nun gibt er es an seine Kinder weiter. Die ganze Familie hilft bei der Vorbereitung der Ausstellung. „Dieses Jahr werden wir mit fünf Arbeiten am Wettbewerb teilnehmen.“ Neben Szenen aus Oaxacas reichhaltiger Festkultur wollen die Cisneros‘ auch biblische Themen aufgreifen.
Enkel Erik – © Knut Hildebrandt

Am Wohnzimmertisch schneidet Schwiegersohn Filipe mit einem feinen, einem Skalpell nicht unähnlichem Messer weiße Gesichtszüge in eine der roten Knollen. „Das wird der Erzengel Gabriel“, sagt er. Der Engel gehört zur Darstellung von „Mariae Verkündigung“, an der er gerade arbeitet. „Seit wir vor zwanzig Jahren geheiratet haben, stellen Maria und ich gemeinsam aus“, erklärt Filipe und lächelt dabei seine Frau an. Neben den beiden flackert eine weisse Kerze auf dem mit frischen Blumen geschmückten Altar.

Die drei Tage zwischen der Ernte des Rettichs und der Ausstellung arbeiten die Cisneros‘ durch. „Letzte Nacht bin ich erst um fünf Uhr morgens ins Bett gekommen.“ Serafin sieht müde aus. Seit elf Uhr ist er nun schon auf dem Zocalo und montiert seinen Festumzug. Immer wieder klettert er auf den Marktstand, um die Heiligenstatue auf dem Umzugswagen zurecht zu rücken oder eine der Figuren umzustellen. Erst am späten Nachmittag, gerade noch rechtzeitig vor dem Rundgang der Jury, ist alles zu seiner Zufriedenheit arrangiert. Jetzt kann Cisneros sich setzen und in aller Ruhe auf die Siegerehrung warten.

Serafín bei Arbeit II © Knut Hildebrandt

Als die Gäste nach der Preisverleihung auf die Straße treten, ist ein lautes Pfeifen zu hören. Es kommt von der Kathedrale auf der anderen Seite des Zocalos. Dort steht ein „Castillo“, ein alle umliegenden Gebäude überragendes Gerüst. Dieses steht buchstäblich in Flammen. Riesige Feuerspiralen drehen sich wie wild und sprühen Funken über den Platz. Immer wieder steigen Raketen auf und explodieren mit lautem Knall am mondlosen Nachthimmel. Zum Abschluss des Spektakels ergießt sich ein gewaltiger Feuerregen vom Dach der Kathedrale und taucht den Zocalo in märchenhaftes Licht.

Trotz der ausgelassenen Feststimmung in dieser lauen Dezembernacht möchte Serafín Cisneros nach dem Feuerwerk gehen. „Ich muss den Schlaf der vergangenen Nächte nachholen“, sagt er und verabschiedet sich von seinen Söhnen. Diese bleiben noch, um mit ihren Frauen und Freunden weiter zu feiern.

Payasos Mexicanos – Mexikanische Clowns

Mexikanische Clowns sind mehr als Zirkusartisten. Im Zentrum Oaxacas erfreuen Clowns allabendlich Einheimische und Touristen mit Straßentheater.

Ansage Bonboncito startet den Wettbewerb – © Knut Hildebrandt

„Kommt und lasst Euch schminken!“ So klingt es kurz vor Eins im Llano aus einem Megafon. „Geht alles mit Wasser wieder ab“, ruft der Clown im weißen Torrerokostüm in die Menge. In der Mitte des parkähnlichen Platzes im Zentrum Oaxacas drängt sich eine dichte Menschentraube um ein gutes Dutzend Clowns. Es ist der Día del Payaso, der Tag des Clowns und die Spassmacher zelebrieren im Llano einen Schminkwettbewerb. In zehn Minuten soll so vielen Kindern wie möglich das Gesicht bunt angemalt werden.

Bomboncito beteiligt sich nicht am Wettbewerb. Zumindest nicht mit dem Schminkkasten. Wild mit einer Kladde fuchtelnd, teilt er die Kinder den schminkenden Clowns zu. „Ich gehöre zur Jury“, sagt er kurz.

Facepainting Clown bei Facepainting – © Knut Hildebrandt

Der 25-Jährige heisst im richtigen Leben Arturo Esteva García. Mit seiner feinen roten Nase, der tief in das Gesicht gezogen Melone, dem weissen Torrero-Kostüm und den silbernen Balletschühchen sieht er nicht wie ein typischer Clown aus. Er wirkt sehr feminin – fast femininer als seine weiblichen Kollegen. Wie alle anderen Clowns stecken auch diese in grellbunten Kostümen und viel zu grossen Schuhen.

„Drei! Zwei! Eins! Los!“ Die Clowns greifen zu Pinsel und Schwämmchen, tauchen diese in Farbtöpfe und zaubern den Kindern Ornamente und Tierfratzen auf die Gesichter. Während seine Kollegen die wartenden Kleinen in Windeseile schminken, schaut Bomboncito Mary Poppins über die Schulter. „Es ist interessant zu sehen, was andere für Tricks auf Lager haben,“ erklärt er. Marys Schminkstil unterscheidet sich deutlich von dem der Clowns. Die in Oaxaca lebende Künstlerin stammt nämlich aus England, wo sie auch ihr Handwerk erlernt hat.

Erfahrungsaustausch Erfahrungsaustausch mit Mary Poppins – © Knut Hildebrandt

Eigentlich hat Bomboncito solche Nachhilfe gar nicht nötig. Denn seinem Beruf geht er schon seit mehr als einem Jahrzehnt nach. „Und Schminken gehört dabei zum Handwerkszeug“, erzählt der Clown und reicht mehrere Pokale von einem hohen Holzschrank herunter. „Die habe ich bei Schmink-Wettbwerben gewonnen“, ergänzt er stolz. Unter den Auszeichnungen ist auch ein erster Preis von der XIII. Internationalen Clowns Convention in Mexiko Stadt.

Überall in Bomboncitos Zimmer liegen Clownsutensilien verstreut. Unter dem Bett lugt ein Paar der übergrossen Schuhe hervor. Über einem Stuhl hängt sein weisser Torrero-Anzug und neben dem Regal in der Ecke steht ein Aluminiumkoffer mit Schminkutensilien. Bomboncito schnappt sich den Schminkkoffer und klettert über eine wacklige Leiter auf das Dach seines Elternhauses.

Schminken Schminken auf dem Dach – © Knut Hildebrandt

Dort warten schon Pinky und Chumpalin. Sie sitzen zwischen altem Bauholz und leeren Bierkästen. Schnell ist aus Brettern und Kisten ein Tisch improvisiert. Dann beginnen die drei sich im warmen Licht der Nachmittagssonne für den heutigen Auftritt zurecht zu machen.

Jeder der Clowns stellt einen anderen Charakter dar. Das erkennt man nicht nur an ihren verschiedenen Kostümen, sondern vor allem auch am Make-Up. „Ich bin Cara Blanca, eine Person der gehobenen Gesellschaft“, erklärt Bomboncito. „Pinky gibt den Vagabunden.“ Das ist eine eher traurige Figur. „Und Chumpalin ist der Tölpel.“

Spiegel Bomboncito beim Schminken – © Knut Hildebrandt

Der seriöse Bomboncito tritt mit weissem Gesicht und dezent geschminkten Lippen und Augen auf. Möchte er einmal etwas wilder wirken, malt er sich bunte Herzen auf die Wangen oder schminkt Kinn und Augenlider in Pastellfarben nach. Pinky und Chumpalin tragen dagegen schon etwas kräftigere Farben auf. Rote Riesenmünder und breite, schwarze Augenbrauen verleihen ihren Charakteren Leben.

Während der Woche arbeiten die drei Clowns in einem kleinen Wanderzirkus. An den Wochenenden treten sie auf privaten Feiern auf. „Heute spielen wir auf einem Kindergeburtstag“, sagt Bomboncito. Dabei zieht er mit einem feinen Pinsel seine Lippen nach. Pinky malt sich währenddessen einen Dreitagebart um die hängenden Mundwinkel. „Und danach geht es noch für eine Stunde auf den Zocalo“, fügt er hinzu.

Triola
Auf dem grossen Platz vor Oaxacas Kathedrale geht es ruhig zu, als die Clowns kurz nach acht aufkreuzen. Die drei richten sich erst einmal häuslich ein und packen aus. Aus ihrem riesigen Koffer ziehen sie Jonglierbälle, in allen Farben des Regenbogens schillernde Leuchtschlangen und eine überdimensionale Kamera. In der Zwischenzeit hat sich auch schon eine kleine Menschentraube um sie gebildet. Vor allem die Kinder warten gespannt, was nun passieren wird.
© Knut Hildebrandt

Heute haben es Bomboncito und seine Freunde auf Touristen abgesehen. Pinky zieht ein älteres Paar aus der Menge und fordert sie auf, Fotos von ihm zu machen. Sofort kommt Chumpalin angesprungen und fotografiert auch wie wild drauf los. Dann fummelt erumständlich an seiner Riesenkamera herum und zieht das Bild einer von Falten zerfurchten Greisin heraus. Unter dem Gelächter des Publikums überreicht er es den Ausländern. Verlegen stecken diese ihm einen Geldschein zu und wollen den Kreis der Zuschauer verlassen.

Aber so schnell kommen die beiden nicht davon. „Fünf Dollar bitte. Ich bekomme noch fünf Dollar für das Bild“, reklamiert Chumpalin lautstark. Während der korpulente Mann mit den Schultern zuckt und auf seine angeblich leeren Hosentaschen zeigt, zieht seine Frau einen weiteren Schein hervor und kauft die beiden frei.

Bahnmuseum Im Bahnmuseum – © Knut Hildebrandt

Jetzt ist endlich die Stunde der kleinen Zuschauer gekommen. Die Clowns werfen ihre Leuchtschlangen in die Menge. Wie wild springen alle Kinder in die Luft, um eine zu erhaschen. Nur ein kleines Mädchen geht leer aus. Doch wie zufällig zieht Bomboncito einen Armreif aus der Tasche, als er die Runde macht und den Obolus für die Vorstellung einsammelt. Vor Freude strahlend streift sich die Kleine diesen über und geht dann glücklich nach Hause.

El Famoso – Don Lucios Palenque in Matatlan

Der Geruch von Pferdemist, Spiritus und verbranntem Holz schlägt uns entgegen. Ein Windstoss weht feine Asche über den Rasen. Aus dem kleinen Fabrikgebäude auf der anderen Seite des Hofes ist das monotone Geräusch von auf Stein mahlendem Stein zu hören. In einer mit Feldsteinen ausgekleideten Grube neben dem Eingang des roten Backsteinbaus türmen sich russgeschwärzte Magueypflanzen.

Begrüßung in Matatlan Begrüßung in Matatlan – © Knut Hildebrandt

Wir sind in Matatlan, der Hauptstadt des Mezcal, wie sich der Ort im Süden Mexikos gerne selbst nennt. Hier hat Don Lucio vor fünfzig Jahren seine Palenque “El Famoso“ – “Der Berühmte“ gegründet. Weltberühmt ist die kleine Mezcalfabrik zwar noch nicht. Jedoch verkauft das Familienunternehmen seine Cremas und Mezcals nicht nur im eigenen Laden an der Hauptstrasse Matatlans. Don Lucio hat Geschäfte in Oaxaca, Cancun und weiteren Touristenzentren des Landes.

Langsam gewöhnen sich unsere Augen an das Dämmerlicht in der Fabrikhalle. Als erstes fällt der magere Gaul auf. Stoisch trottet der im Kreis und zieht einen Mühlstein hinter sich her. In kurzem Abstand folgt ein Arbeiter dem Pferd. Der Mann schaufelt die vom Stein zerriebenen Magueystücke in einen hohen Holzbottich.

Zerkleinern der Agaven Zerkleinern der Agavenherzen – © Knut Hildebrandt

Neben dem Bottich steht Juan Hernandez Santiago, Schwiegersohn des Firmengründers und Produktionsleiter der Fabrik. Mit einer langen Stange rührt er prüfend den braunen Inhalt des Trogs um. Nachdem Hernandez sich kurz die Hände an seiner Hose abgewischt hat, begrüsst uns er mit kräftigem Händedruck. Dann beginnt er die auf traditionelle Art und Weise erfolgende Herstellung des Mezcals zu erklären.

Als erstes werden die Agaven zerkleinert und in dem Ofen vor der Werkhalle gekocht. Danach zerquetscht man sie mit dem schweren Mühlstein. Der dabei entstehende Brei wird im Anschluss in den grossen Holzbottichen vergoren. Nach der Fermentation wandert der nun alkoholhaltige Sud in den hinteren Teil der Halle zur Distillation.

Destillationsanlage

© Knut Hildebrandt

Dort befinden sich zwei grosse Kessel unter denen munter kleine Feuer prasseln. Rohre führen von den Kesseln zu randvoll mit kaltem Wasser gefüllten Becken. In kleinen Kuhlen unterhalb der Wasserbecken stehen bauchige Kupferkrüge. In diese fliessen zwei dünne Rinnsale glasklaren, jungen Mezcals.

Den jungen Mezcal lässt man nach der Distillation für mindestens zwei Monate altern, erzählt Hernandez. Er führt uns über den Hof zu einem Lagerraum. Dort liegen auf langen Regalen dutzende Eichenfässer. In diesen reift der Mezcal bis zu fünf Jahre lang. Dabei nimmt er die typische goldgelbe Färbung und sein leicht rauchiges Aroma an.

Normalerweise endet an dieser Stelle der Rundgang durch Don Lucios Palenque. Jedoch möchte Hernandez es sich nicht nehmen lassen, uns auch die Magueyplantagen der Firma zu zeigen. Also quetschen wir uns in seinen zwanzig Jahre alten VW Käfer und verlassen Matatlan in Richtung Oaxaca.

In sanften Kurven schlängelt sich die Landstrasse durch die Valles Centrales. Am Horizont ragen karge Berge in den blauen Himmel. Wie ein großer, bunter Flickenteppich liegt die weite, trockene Ebene vor uns. In der Ferne leuchten pink und lila blühende Bäume. Neben der Strasse stehen mannshohe Kakteen. Das fahle Braun vor langer Zeit abgeernteter Felder wechselt sich mit dem saftigen Grün ausgedehnter Magueypflanzungen ab.

Magueyfeld Magueyfeld – © Knut Hildebrandt

Nach knapp zehn Minuten Fahrt erreichen wir einen riesigen Acker. Wie in Reih und Glied zum Appell angetretene Soldaten stehen auf ihm hunderte Magueypflanzen. Zwischen den leicht bläulich schimmernden Agaven liegen mehrere Meter lange, vertrocknete Blütenstände im Staub.

“Das Feld wird bald abgeerntet,“ erzählt Hernandez. Denn gut ein Jahr nach der Blüte ist der Maguey reif für die Verarbeitung. Dann kommen am frühen Morgen, wenn es noch angenehm kühl auf den Feldern ist, die Arbeiter. Mit langen Macheten schlagen sie die Blätter der Magueypfanzen ab und ernten die an riesige Annas erinnernden Agavenherzen.

Mezcal-Proben Ausschenken der Mezcal-Proben – © Knut Hildebrandt

Am Rande des Magueyfeldes weiht uns Juan Hernandez dann auch in das Geheimnis des Mezcalwurms ein. “Die Tiere leben in den Wurzeln der Pflanzen“, erklärt er. Einmal im Jahr, in den Sommermonaten August und September, werden die Raupen eingesammelt. In den Mezcal gibt man sie, um dessen Aroma eine besondere Note zu geben.

Von den Magueyplantagen geht es weiter nach Mitla. Dort hat Don Lucio im letzten Jahr eine zweite Mezcalfabrik errichtet. Vor dem Restaurant der neuen Palenque steht ein silberner Reisebus. Eine Gruppe holländischer Touristen verlässt gerade die strahlend weisse Fabrikhalle. Während die Holländer in ihren Bus steigen und weiter zu den Ruinen von Mitla fahren, kehren wir in die Gaststätte ein. Hier wollen wir in aller Ruhe die Mezcals aus Don Lucios Produktion verkosten.

Schwarzer Drache – bunter Kaktus

„Alebrijes? Woher der Name Alebrijes stammt?“ fragt Claudio Morales, während er seinen Achtzylinder-Geländewagen die Landstraße entlang steuert. „Das Wort ist im Delirium entstanden.“ In einer Fiebernacht, erklärt er, seien dem Künstler Pedro Linares im Traum seltsame Tiere erschienen. Und all diese geflügelten Esel, gehörnten Hähne und mit Greifenköpfen umher stolzierenden Löwen riefen ihm ein und dasselbe Wort zu. „A-le-bri-je!“

Alebrijes auf Markt Alebrijes auf einem Markt in Oaxaca – © Knut Hildebrandt

Linares lebte in den dreißiger Jahren des letzten Jahrhundert am Rande Mexiko Citys. Um seinen Lebensunterhalt zu verdienen, fertigte aus Pappmaché Piñatas und Karnevalsmasken an. Aus seinem Fiebertraum erwacht, begann er auch die ihm darin erschienenen Fabelwesen aus Pappmaché zu formen. Wie im Traum gesehen, malte er die Figuren grell bunt an.

Nach Oaxaca kamen die Alebrijes gut dreißig Jahren später. Inspiriert durch Linares‘ Arbeiten begannen Kunsthandwerker stilisierte Tiere aus Holz zu schnitzen. Heute leben in den Dörfern um Oaxaca mehr als zweihundert Familien von den Holzschnittarbeiten. In Heimarbeit stellen sie ihre kleinen Kunstwerke her und verkaufen diese auf den Märkten der Stadt.

Fabelwesen im Schuppen Fabelwesen im Schuppen – © Knut Hildebrandt

Der Jeep hält vor einem kleinen Anwesen in San Antonio Arrazola Xoxocotlan. Hier wohnt Morales, hier hat er sein Atelier. Aus einem Schuppen gegenüber dem Hoftor stiert mich ein geflügelter Drache mit Menschenkopf an. Hände und Füsse des Ungetümes zieren lange Klauen. Sein Schwanz ist mit scharfen Stacheln bewehrt. Und auf dem Kopf mit den menschlichen Gesichtszügen und den unnatürlich grossen Ohren thront ein Frosch.

Dieses aus einem Fantasyfilm entsprungen zu scheinende Wesen ist das Produkt der reichen Phantasie eines Claudio Morales. Es entstammt Reisen in innere Welten, denen auch seine sehr eigene philosophische Weltsicht entspringt. Nicht umsonst wird Claudio von seinen zapotekischen Freunden nach einer Figur aus der Mythologie ihres Volkes benannt. Dem „Schwarzen Drachen“ werden nämlich magische Kräfte zugeschrieben.

Teresa González Teresa bemalt Alebrije – © Knut Hildebrandt

„Genug gestaunt!“ reißt mich Claudio aus meinen Gedanken. „Du musst unbedingt Teresita kennen lernen,“ sagt er und schiebt mich durch die Tür einer kleinen Werkstatt. In dem engen Raum steht die Luft. Einzig durch die offene Tür weht ein kaum spürbarer Luftzug hinein. Im Halbdunkel sehe ich zwei Frauen arbeiten. Mit feinen Pinseln bemalen sie Figuren aus Holz. Diese sind für einen Auftrag aus Deutschland – einen Kaktus – an dem er mit seiner Frau Teresa González seit über einem Monat arbeiten, erklärt mir Morales.

Auf einem Tisch im Wohnzimmer steht das Kunstwerk. Wie alle Arbeiten der beiden beeindruckt es durch seine Größe. Mindestens einen Meter im Durchmesser misst das verzweigte Gewächs. Raupen kriechen über seine in verschiedenen Grüntönen schimmernden Blätter. Schmetterlinge, Bienen und Kolibris umschwirren die aus ihm hervor sprießenden Blüten.

Claudio mit Kaktus Claudio mit Kaktus – © Knut Hildebrandt

Nicht nur durch ihre Größe unterscheiden sich Claudios und Teresas Alebrijes von denen der anderen Holzschnitzer der Region. Im Gegensatz zu diesen zeichnen die beiden auch ihre Arbeiten gemeinsam. Damit wollen sie unterstreichen, dass Teresas Malerei genauso Bestandteil des künstlerischen Schaffensprozesses ist, wie Claudios Schnitzerei. Denn mit ihrer ausgefeilten Maltechnik gelingt es Teresa den Alebrijes eine ihnen eigene Oberflächenstruktur zu geben. Nicht zuletzt diese ausgefallenen Texturen heben ihre Arbeiten deutlich von denen der Kunsthandwerker ab.

Dies wurde vor fünf Jahren auch durch den Bundesstaat Oaxaca anerkannt. Claudio darf sich seitdem, im Gegensatz zu den Kunsthandwerkern, offiziell als Bildhauer bezeichnen. Damit wird nicht nur sein künstlerisches Schaffen gewürdigt, sondern auch dem Umstand Rechnung getragen, dass seine Arbeiten internationale Anerkennung finden. Denn Claudios Alebrijes werden nicht nur von ausländischen Kunstliebhabern gesammelt. Museen aus der ganzen Welt haben bereits seine Werke gekauft.

Marktplausch Marktplausch – © Knut Hildebrandt

„Das Leben ist der wahre Traum, dem wir folgen müssen“ sagt Claudio, während wir den Kaktus betrachten.“Und wir sollten es jetzt leben. Gestern ist vergangen und morgen ungewiss.“ Zu viele Menschen jagen nur materiellen Träumen hinterher, philosophiert Morales weiter. „Und sie vergessen dabei zu leben.“ Vor zwei Tagen sei unerwartet ein Freund gestorben. „Was bleibt dem jetzt von seinem Leben?“

Claudio Morales hat sein Leben stets intensiv gelebt. Nicht ohne Stolz erzählt der immer noch attraktive Mitvierziger von den Abenteuern seiner Jugend. Gross gewachsen, mit langem schwarzen Haar und sportlicher Figur war er der Schwarm aller Frauen. Heute lebe er ruhiger, erklärt mir Morales. Gott habe ihm eine Frau und zwei Kinder beschert und die Kunst, welche seinem Leben einen Sinn geben. Er ist ein glücklicher Mann, fügt Claudio hinzu.

Essensstände Essensstand auf dem Viehmarkt von Zaachila – © Knut Hildebrandt

Zwei Tage später treffe ich Claudio wieder. Gemächlich schlendere ich über den Viehmarkt von Zaachila. Um mich herum wechseln Rinder den Besitzer, werden Pferde kritisch beäugt und laut meckernde Ziegen auf Kleinlastern verstaut. Am Rande des bunten Treibens steht ein halbes Dutzend Essensstände. Marktfrauen rösten Fleisch auf dem Grill und rollen es in frische Tortillas. Es riecht nach Gebratenem und Gesottenem.

Schon von Weitem sehe ich Claudios stattliche Gestalt hinter einem der Stände. Zusammen mit Freunden sitzt er dort an einem langen Tisch. Gemeinsam trinken sie Bier und Mezcal. Mit lauter Stimme singen sie dabei zur Gitarre. Ja, Claudio versteht auch heute noch das Leben in vollen Zügen zu genießen.

Día de los Muertos

Punkt zwölf Uhr mittags bricht die Fiesta wie ein Gewittersturm über Xochimilco, einem kleinen Viertel im Norden Oaxacas, herein. Donnerschlag folgt auf Donnerschlag, als die Raketen am strahlend blauen Himmel mit lautem Knall explodieren. Doch Augustin Chávez kann das nicht erschrecken. „Wir sind das gewöhnt“, brüllt mir der Mitvierziger, der nicht weit entfernt von Xochimilcos Kirche eine kleine Pension betreibt, entgegen. „Das ist bei jedem Fest in Oaxaca so.“ Chávez ist gerade auf dem Weg zum Friedhof, um dort gemeinsam mit der Familie den „Dia de los Muertos“ zu feiern.

Am Grab Am Grab – © Knut Hildebrandt

Jedes Jahr wird Anfang November in Mexiko der „Tag der Toten“ begangen. Nach wochenlangen Vorbereitungen trifft sich die ganze Familie, um an den Gräbern der Vorfahren ein farbenfrohes Fest zu feiern. Nach altem mexikanischen Glauben kehren nämlich die Seelen der Verstorbenen in der Zeit zwischen 31. Oktober und zweitem November zu Besuch auf die Erde zurück. In Oaxaca beschränken sich die Feierlichkeiten allerdings nicht nur auf diese drei Tage, meint Chávez: „Bis Ende November wird jeden Montag auf einem der vier ältesten Friedhöfe der Stadt ein eigenes Totenfest gefeiert.“ Mittlerweile spielt eine Blaskapelle, seine Worte sind kaum noch zu verstehen. Dann plötzlich Stille. Der Pfarrer spricht mit monotoner Stimme. Kurze Zeit später wieder Explosionen, die Kapelle spielt weiter. Der „Día de los Muertos“ von Xochimilco hat begonnen.

Xochimilcos Friedhof liegt hinter einer hohen, mit bunten Glasscherben gespickten Mauer. Er besteht aus einer unübersichtlichen Ansammlung zum Teil windschiefer Grabsteine. Zwischen den Gräbern ist kaum mehr als ein Fuß breit Platz. Nur wenige, schmale Wege durchziehen den im Schachbrettmuster angelegten Gottesacker. Ich muss fast über die Grabstellen springen, um Augustin zu folgen. Den scheint das Chaos wenig zu stören. Beherzt steigt er auf und über die Gräber. Ziel ist die mit frischen Blumen und bunten Kerzen geschmückte Ruhestätte seiner Ahnen. Hier warten schon die Verwandten und lauschen andächtig der Predigt des Geistlichen.

Die Blaskapelle Die Blaskapelle – © Knut Hildebrandt

Nach der Messe kommt die Fiesta erst richtig in Schwung. Die Blaskapelle zieht von Grabstätte zu Grabstätte. Mit der Kapelle ziehen Jugendliche über den Friedhof. Sie tragen die martialisch anmutenden Masken der Luchadore, der mexikanischen Freistilringer. Die Jungen und Mädchen stecken in schwarzen Kostümen mit langen Schwänzen, welche über und über mit Schellen aus Messing behangen sind. Sie halten Peitschen in den Händen, mit denen sie wild um sich schlagen. Wie Derwische tanzen die jungen Leute zwischen, über und auf den Gräbern. Nach kürzester Zeit ist der ganze Friedhof in eine dichte Staubwolken gehüllt.

Durch die Masse der dicht um die Tänzer stehenden Schaulustigen drängen fliegende Händler und bieten Snacks an, Tacos mit feuerroter „Salchicha“ oder Tamales, scharf gewürzte Rollen aus Maisteig, die mit Käse, Fleisch und Gemüse aus Bananenblättern gegessen werden. Der Festschmaus kann beginnen! Augustin Chávez zieht Speisen und Getränke aus seinen großen Taschen. Auch eine Flasche Mezcal ist dabei. Denn: „Ein guter Tequila gehört zu jeder Fiesta!“ Chavéz schenkt ein und immer wieder nach.

Derwische Tanz der Derwische – © Knut Hildebrandt

Am frühen Abend ist das Festessen beendet. Augustin klappt die mitgebrachten Stühle zusammen und verstaut das Geschirr. „Höhepunkt des Festes“, sagt er, „wird das Konzert des Orquestra Primavera“. Das Konzert des „Frühlingsorchester“ soll um 18 Uhr beginnen. Gemeinsam machen wir uns auf den Weg zu der kleinen Bühne, die zwischen Kirche und Friedhof aufgebaut wurde. Kurz nach Einbruch der Dunkelheit nehmen auf ihr die gut vierzig Musiker Platz und beginnen ihr einstündiges, immer wieder von begeistertem Applaus unterbrochenes Konzert.

Während vor der Kirche das halbe Viertel andächtig den süßlichen Klängen zwischen Klassik und Latinorhythmen lauscht, geht hinter der hohen Friedhofsmauer die Party weiter. Im Kerzenschein zieht die Blaskapelle immer noch kreuz und quer über den Friedhof. Wo immer sie zwischen den Gräbern Platz für ihre große Trommel findet, bleibt sie stehen und spielt ein, zwei Lieder. Die Derwische tanzen dazu wie in Trance und stoßen dabei wilde Schreie aus. Mit ihnen walzen einige Paare durch den Staub des Totenackers. Und alle trinken zusammen. Reichlich angetrunkene Männer schleppen in großen Pappkartons Bier heran und verteilen die Flaschen an die Tänzer und Musikanten. Und Mezcal wird getrunken, viel Mezcal. Aus Fünfliterkanistern schenkt man ihn ein. Sein beißender Geruch nach billigem Sprit vermischt sich langsam mit dem schweren Duft von Weihrauch, der noch über dem Friedhof hängt. Bald sind alle betrunken und nicht wenige liegen jetzt auch auf den Gräbern herum.

Umzug Umzug – © Knut Hildebrandt

Gegen halb acht geht das Fest zu Ende. Die Feiernden ziehen mit der Blaskapelle durch das großes Friedhofstor, welches für die Nacht wieder verschlossen wird. Vor der Kirche treffen sie auf eine abenteuerlich kostümierte, bizarre Masken tragende Schauspieltruppe. Zusammen tobt dann der ganze Haufen zu den Klängen der Blasmusik durch die Straßen Xochimilcos davon. Mit den letzten Gästen ist auch Augustin verschwunden. Zurück bleiben fünf, sechs Kinder, die vor den verschlossenen Toren des Kirchhofes fröhlich über das noch warme Pflaster springen und Seifenblasen auf die Reise durch die nächtlichen Straßen schicken. Es zieht wieder Ruhe ein in Xochimilco. Der „Día de los Muertos“ ist vorüber.

Oaxaca de Fiesta

Tänzerinnen Festumzug durch Oaxaca – © Knut Hildebrandt

In Oaxaca, der Hauptstadt des gleichnamigen Bundesstaates in Südmexiko, vermischen sich christliche Religion und indigene Tradition zu einer farbenfrohen Festkultur. Eine besondere Rolle im Festleben Oaxacas spielt die Semana Santa. Während der Karwoche vergeht kein Tag ohne religiöse Prozession oder farbenprächtigen Festumzug. Aber schon Wochen vorher, beginnend mit dem Aschermittwoch, gibt es immer wieder kleinere oder größere religiöse Feste. So wird zu Samarintana, eine Woche vor Karfreitag, der „Día del Agua“ begangen. Vor Kirchen und Geschäften, aber auch in Büros, Schulen und der Universität werden an diesem Tag eisgekühlte Fruchtsaftschorlen an Passanten und Besucher ausgeschenkt. Einen der Höhepunkte der Osterfeierlichkeiten stellt die „Prozession des Schweigens“ dar. Am Abend des Karfreitags tragen Gläubige die Heiligenstatuen der größten Kirchen Oaxacas in langen Festzügen durch die Straßen der historischen Innenstadt.

Vermummter Procesión del Silencio – © Knut Hildebrandt

Nach den Osterfeiertagen wird es etwas ruhiger in der Stadt. Aber: nach der Fiesta ist hier auch stets vor der Fiesta. Denn in Oaxaca wird immer irgendwo ein Fest gefeiert. Sei es das Jubiläum einer Schule oder der Namenstag eines Heiligen, ein Grund zum feiern ist schnell gefunden. Dann ziehen die Oaxaceños bunt verkleidet, zu den Klängen einer Blaskapelle tanzend durch die Straßen der Stadt und trinken dabei auch so manches Gläschen Mezcal.

Und ab Ende Oktober geht es dann auch wieder richtig los. Der „Día de los Muertos“ wird in Oaxaca nämlich ganze vier mal begangen. An jedem Montag im Monat November findet auf einem der vier ältesten Friedhöfe der Stadt eine eigene Totenfeier statt. Ist das letzte Totenfest vorbei, beginnt auch schon die Vorweihnachtszeit. In ihr vergeht kaum ein Tag, an dem sich nicht Nachbarn zur gemeinsamen Weihnachtsfeier auf den Straßen ihres Viertels versammeln oder vor einer der wichtigsten Kirchen der Stadt ein Weihnachtsmarkt stattfindet. In die Weihnachtszeit fällt auch die „Noche de Rábanos“. Zu ihr werden am Tag vor Heiligabend Bildnisse aus Rettich auf dem festlich geschmückten Zocalo ausgestellt.